Heute möchte ich euch ein paar wichtige Aspekte aus dem Buch Sprache und Sein von Kübra Gümüşay vorstellen. Ich habe ja in den letzten Wochen schon darauf hingewiesen, dass Feminismus sich in verschiedene Themen und auf verschiedenen Ebenen abspielt und ein Teil davon ist auch die Sprache. Sprache und Sein ist recht theoretisch, aber die Theorie überzeugt und gleichzeitig gibt es wertvolle Einblicke in die Sprachen und damit die Realitäten von Menschen, die nicht zur Norm gezählt werden.

Sprache schafft Realität
Gleich zu Beginn gibt die Autorin einige Beispiele, wie Sprache die Realität beeinflusst und dafür sorgt, dass wir die Realität unterschiedlich wahrnehmen und uns deshalb auch unterschiedlich verhalten. Sie erzählt z.B. von dem Pirahã Volk in Brasilien, deren Sprache keine Vergangenheitsform hat, und fragt, ob wir ohne Vergangenheitsform vielleicht nicht so sehr auf die Vergangenheit konzentriert wären. Weiterhin haben einige Sprachen, wie Indonesisch, Türkisch, Japanisch, Finnisch und Persisch keine geschlechterspezifischen Pronomen.
„Sprache ist genauso reich und arm, begrenzt und weit, offen und vorurteilsbeladen wie die Menschen, die sie benutzen.“
Kübra Gümüşay
Geschlechtergerechte Sprache
Auch die Geschlechtergerechtigkeit (oder die Abwesenheit dieser) wird laut Kübra Gümüşay in der Sprache widergespiegelt. So ernennt eine Regelung wie das generische Maskulin das Männliche zum Standard, zur Norm und das Weibliche somit zur Abweichung, dem Abnormalen. (Über das Thema habe ich übrigens schon mal in meinem Blogpost zu Gendergerechter Sprache geschrieben.)
„In unserer Sprache gilt die Regel: 99 Sängerinnen und ein Sänger sind zusammen 100 Sänger. Futsch sind die 99 Frauen, nicht mehr auffindbar, verschwunden in der Männerschublade.“
Luise F. Pusch
Mehrsprachigkeit
Einen Schwerpunkt legt die Autorin, die selbst mehrsprachig ist, auf die Erfahrungen von Menschen, die verschiedene Zuhause haben: in Bezug auf Länder, Kulturen und Sprachen. Sie beschreibt sehr einfühlsam und verständlich, dass alle ihre Sprachen ein Teil ihrer Selbst sind und wenn eine fehlt, dann fehlt ein Teil des Seins. Auch schreibt sie, dass diese Erfahrung mittlerweile von immer mehr Menschen geteilt wird und dass sie an sich eine Bereicherung sein kann.
„Unser Jahrhundert ist das der Menschen, die in mehr als einer Sprache träumen.“
Kübra Gümüşay
Sprache ist in diesem Zusammenhang auch eine Frage der Zugehörigkeit und die Erfahrung der Zugehörigkeit wird zerstört, wenn die Menschen daran gehindert werden, ihre Sprachen zu sprechen. So ist es zum Beispiel beim früheren Verbot der kurdischen Sprache in der Türkei, aber auch wenn sich hierzulande Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, dafür rechtfertigen müssen, dass sie Deutsch als ihre Sprache ansehen.
Wenn Sprache nicht ausreicht
Auch kann es vorkommen und kam es oft vor, dass es für die Erfahrungen von Minderheiten oder unterdrückten Gesellschaftsgruppen keine Worte gibt. Dadurch können sie ihre Gedanken und Probleme nicht ausdrücken und fühlen sich mit ihnen allein, obwohl es andere gibt, die dieselben Erfahrungen machen. So gab es z.B. lange für viele körperliche Frauenprobleme keine Namen, weil Männer die Sprache bestimmten und Probleme, die sie nicht betreffen, fanden darin keinen Platz.
Benannte vs. Unbenannte
Kübra Gümüşays Theorie baut auf der Unterscheidung von Benannten und Unbenannten. Die Unbenannten entsprechen der Norm. Ihre Existenz wird nicht infrage gestellt und die Welt wird aus ihrer Perspektive gesehen. Sie sind gleichzeitig die Benennenden. Die Benannten wiederum weichen von der Norm ab. Sie sind nicht selbstverständlich und werden dadurch entmenschlicht. Sie werden als Repräsentant*innen ihrer Gruppe gesehen, nicht als Individuen und sie müssen sich ständig für sich selbst rechtfertigen. Dadurch beeinflusst die Sprache ganz stark ihre Realität.
Ein neues Sprechen
Im letzten Kapitel entwirft die Autorin ein paar Gegenentwürfe, die ich sehr schön fand. Sie hält fest, dass Sprache sich ändern darf und muss. Heute erkennen die meisten Staaten die Menschenrechte an und das bedeutet auch, dass sich Sprache wandeln muss, um dem gerecht zu werden, um Menschen nicht mehr zu unterdrücken, auszuschließen oder zu entmenschlichen. Wir brauchen unterschiedliche Perspektiven auf die Welt, denn nur so können wir eine wirklich gemeinsame Sprache entwickeln. Das wird nicht einfach so passieren, sondern wir müssen es ausprobieren und ja auch dafür kämpfen.
Kennt ihr Sprache und Sein? Wie fandet ihr das Buch und was nehmt ihr daraus mit? Was glaubt ihr, wie Sprache unsere Realität beeinflusst? Seid ihr auch beim #femtember dabei? Ich freue mich auf den Austausch mit euch! Meine letzten beiden #femtember Posts waren zu den Themen Feminismus und Erotik und Feminismus, Rassismus und soziale Ungleichheit.
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Hallo:)
Mir hat das Buch sehr gefallen.
Ich konnte einiges daraus lernen. Erst in den letzten Jahren habe ich mich auch intensiver damit auseinandergesetzt, was Sprache denn in meinem Alltag ausmacht. Und auch mit meiner Verwendung von Sprache, sei es auf meinem persönlichen Weg oder auch im Bezug auf z.B. Alltagsrassismus und ähnliches. Wie sind wir sozialisiert, wie bin ich konditioniert? Wie spreche ich mit mir selbst? Welchen Unterschied macht es in Konflikten, wie ich mich ausdrücke, oder mit Kindern, welche Worte ich verwende, um bei der Emotionsregulation zu helfen? Und vor allem: wenn es, wie Kübra auch schreibt, endlich Worte gibt, für Dinge, die vorher nicht benannt werden konnten, was das ausmacht….
Auch in therapeutischen/ medizinischen Settings macht es viel aus, wie ein Arzt z.B. eine schwierige Diagnose überbringt oder vor einer OP kommuniziert.
Es betrifft so viele Bereiche unseres täglichen Lebens, ich lerne da auch noch immer wieder neu dazu.
Ich beschäftige mich u.a. auch intensiv mit Trauma und Traumafolgen, da ist das ganz besonders entlastend, wenn erstmals Missstände benannt und anerkannt werden können. Wie wichtig das ist für Heilprozesse!
Und tatsächlich habe ich vor dieser Lektüre nie darüber nachgedacht, dass manche Sprachen gesellschaftlich mehr Anerkennung erfahren als andere…Aber es stimmt….
Sprache macht sehr viel aus, sie kann zerstören oder heilen, sie kann ausgrenzen oder (mich selbst) niedermachen, sie kann einschliessen und aufbauen.
Ein wichtiges Buch!
Lg, Kathrin
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Hi,
Sprache und sein steht auch noch auf meiner „will ich noch lesen“ Liste.
Ich glaube auch, dass unsere Sprache einem ständigen Wandel unterliegt. Manches passiert unbewusst, anderes wird forciert. Dadurch wird unsere Sprache an sich nicht besser oder schlechter. Gesellschaftlich schaffen wir so aber ein Bewusstsein und Akzeptanz für verschiedene Gruppen und der Vergangenheit.
Viele Grüße
Jenny
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Das Buch hab ich noch nicht gelesen, klingt aber sehr interessant. Ich finde, mit den bisherigen genderkorrekten Ansätzen im Deutschen haben wir noch nicht die beste Lösung gefunden. Aber sicher findet sich das noch. Im Moment ist es einfach unbequem, oft sieht es nicht schön aus, liest sich schwer (ist nicht mehr barrierefrei) und hebt das Weibliche überdeutlich in den Vordergrund. Ich finde es faszinierend, dass es auch Sprachen gibt, die ganz ohne Genderpronomen auskommen. Das ist doch ideal! Aber ob wir so eine Umwälzung im Deutschen möglich machen können? In Schweden hat man vor einigen Jahren ein drittes Pronomen zwischen männlich und weiblich künstlich eingeführt – ob das in der Praxis funktioniert, weiß ich nicht. Ich denke, die Veränderung passiert langsam, aber stetig.
Liebe Grüße, Tala
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Das ist ja spannend mit dem 3. Pronomen in Schweden, das wusste ich gar nicht. Ja, ich finde auch, dass es manche Sprachen schon lange besser lösen, aber ich glaube, dass sich auch das Deutsche irgendwann so wandeln wird, dass es besser inkludiert und trotzdem barrierefrei ist.
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Das Pronomen „hen“ (neben „han“=er und „hun“=sie) wurde in Schweden schon 2015 eingeführt, aber 2020 offiziell ins Wörterbuch aufgenommen. Wie sehr es im Alltag benutzt wird, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass die Schweden sich in Sachen Gleichberechtigung wahnsinnig viel Mühe geben und sich viele schwedische Männer als Feministen bezeichnen. Deutschland ist bei sowas immer ein paar Jahrzehnte hinterher… Aber es ändert sich auch hier was, wie ich finde.
Viele Grüße!
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